Einblicke

Friedensethische Bewertung des Krieges gegen die Ukraine

durch Prof. Dr. theol. Heinz-Gerhard Justenhoven von der Kath. Friedensstiftung

Am 24. Februar 2022 hat die russische Armee die Ukraine angegriffen. Nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 als Reaktion auf den Euromaidan in Kiew hat Russland seit dem Frühjahr 2021 seine militärische Präsenz entlang der ukrainischen Grenze massiv aufgerüstet und am 24. Februar 2022 schließlich das Nachbarland überfallen. Der russische Präsident Wladimir Putin fordert eine Anerkennung der Krim als russisches Territorium, die Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden „Volksrepubliken“ im Donbass und die Verankerung der Neutralität in der Verfassung der Ukraine. Außerdem wirft er der ukrainischen Regierung – unter dem jüdischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – vor, faschistisch zu sein und im Osten der Ukraine einen Genozid an der russischen Minderheit zu verüben. Deshalb begründet er den Angriffskrieg damit, eine „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ durchführen zu wollen. Für keinen dieser Vorwürfe des Autokraten gibt es Belege.

Kern des Krieges ist tatsächlich der Konflikt über die gesellschaftliche und politische Ordnung postsowjetischer Staaten, weiß der Friedensforscher und Ethikexperte Prof. Dr. theol. Heinz-Gerhard Justenhoven. Er ist seit 1995 Direktor des von der katholischen Kirche getragenen Instituts für Theologie und Frieden (ithf) in Hamburg. Seit 2010 hat er zudem den Stiftungsvorstand von dessen Förderstiftung inne, der Katholischen Friedensstiftung in Hamburg.

Ein Konflikt über die gesellschaftliche und politische Ordnung postsowjetischer Staaten

Proteste gegen die überkomme Herrschaft postsowjetischer Staaten in Belarus, Russland, Kasachstan, in Georgien, aber eben auch in der Ukraine haben sich im Aufstand auf dem Maidan in Kiew Ende 2013/Anfang 2014 kulminiert. Die Protestierenden stellten sich gegen die Unterdrückung der Menschen als Masse und für ein selbstbestimmtes, individuelles, freies und demokratisches Leben. Dies manifestiert sich in der ukrainischen Bezeichnung für den Euromaidan: „Revolution der Würde“. Der Ruf nach individueller sowie politischer Selbstbestimmung und Würde bedeutet zugleich die Infragestellung der Autokraten des postsowjetischen Systems, die Putin durch die Unterdrückung der russischen Opposition und die Aushöhlung der Freiheitsbewegung in Belarus und Kasachstan zu ersticken versucht. Konfliktverschärfend kommt im Fall der Ukraine hinzu, dass ihr von Putin das Recht auf ein eigenes Volk mit dem Recht auf Selbstbestimmung abspricht. Dies ist, so stellt Justenhoven fest, im Grunde faschistoid und der Vorwurf Putins, die Ukraine müsse von Nazis gereinigt werden, damit mehr als zynisch.

Der Unabhängigkeitsplatz in Kiew vor dem Angriffskrieg durch Russland
Der Unabhängigkeitsplatz (Maidan-Nezalezhnosti) in Kiew vor dem Krieg

Für die friedensethische Antwort auf die deutsche Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine sind zwei völkerrechtliche Aspekte bedeutsam: Das Gewaltverbot im internationalen Völkerrecht auf der einen, das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung auf der anderen Seite. Die UN-Charta verbietet Androhung und Anordnung von Gewalt in internationalen Beziehungen. Wird dieses Gewaltverbot gebrochen, ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zuständig, erforderliche Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu treffen. Da Russland hier jedoch als permanentes Mitglied sein Veto-Recht missbraucht hat, hat die Generalversammlung der UN den Fall an sich gezogen und die Aggression Russlands gegen die Ukraine mit 141 zu 5 Stimmen verurteilt. Damit steht weltöffentlich fest, wer der Aggressor ist und wer ein Verteidigungsrecht hat. Zudem ist der Anspruch Russlands, man würde ethnische Russen im Donbass verteidigen oder befreien, in der UN-Generalversammlung durch nichts belegt worden.

Die Lieferung von schweren Waffen ist friedensethisch richtig

Daraus resultiert, so Justenhoven, dass die Ukraine ein konditioniertes Recht am Ziel der Gewaltüberwindung hat, sich selbst zu verteidigen. Alle Mitglieder der Staatengemeinschaft sind demzufolge nach dem Maß ihrer Möglichkeiten verpflichtet, die schwächere Ukraine gegen das stärkere Russland verhältnismäßig und suffizient zu unterstützen, sonst handelt es sich aus ethischer Perspektive um unterlassene Hilfeleistung. Da die russische Armee schwere Waffen einsetzt, hat die Ukraine in der Folge das Recht, solche Waffen in gleichem Maße einzufordern.

Wo steht der Krieg in der Ukraine heute? Welche Entwicklungen sind absehbar?

Putin kann seine Ziele in der Ukraine bereits jetzt nicht mehr erreichen: Die Entmachtung der ukrainischen Regierung, „Entnazifizierung“, Entmilitarisierung, Installierung einer Marionettenregierung in Kiew und damit eine Verhinderung der Westorientierung – und damit einer Demokratisierung – der Ukraine. Ganz im Gegenteil: Die Ukrainer als Volk sind einiger denn je und kämpfen gemeinsam für ihre Freiheit. Nur das erklärt den enormen Widerstand, den niemand – insbesondere nicht Putin – erwartet hat. Insbesondere die russischsprachige Bevölkerung hat jetzt deutlich vor Augen, was sie verlieren würden. Gleichzeitig ist ein tiefer Graben zwischen der Ukraine und Russland entstanden, der ganze Familienbande zerreißen lässt.

Flagge der Vereinten Nationen
Die Flagge der Vereinten Nationen

Die russische Armee ist insbesondere durch die Fehler insbesondere der ersten drei Wochen sehr geschwächt. In den ersten 100 Tagen sind bereits mehr russische Soldaten gefallen als in 10 Jahren Afghanistaneinsatz. Die zwei- bis dreifache Zahl an Soldaten ist desertiert oder verwundet und damit nicht mehr einsetzbar. Über 4.000 gepanzerte Fahrzeuge hat die russische Armee bereits verloren, ein Drittel davon hat die ukrainische Armee übernehmen können. Da der russische Präsident noch immer von einer militärischen Spezialoperation spricht, rekrutiert er neue Soldaten in einer verdeckten Mobilmachung. Aus Angst, dass dies in den großen Städten durchschlägt, mobilisiert er eher in entfernten ländlichen Regionen, anstatt die gut ausgebildeten Soldaten aus den großen Städten einzuziehen. Das ist, verbildlicht Justenhoven, „als würde man die Truppe des Fußballbundesligisten Bayern München mit der Kreisklasse auffüllen.“

Die Ukraine wird siegen – und dafür einen hohen Blutzoll zahlen

Die russische Armee hat zwar ihre Taktik geändert und konzentriert sich jetzt auf überschaubare Ziele. Dadurch kann sie langsame, aber stetige Geländegewinne machen. Das Institut for the Study of War vertritt die Einschätzung, dass dies das Optimum ist, was die russische Armee in der Ukraine erreichen kann. Dennoch sind insbesondere im Osten der Ukraine bereits jetzt ganze Landstriche zerstört. EU und USA haben bereits ihre finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau zugesagt, doch die Schäden an Infrastruktur, Wohnraum, Schulen, Krankenhäuser und Industrieanlagen sind enorm.

Die Ukraine hat die die bessere Perspektive, diesen Krieg zu gewinnen, doch wird sie dafür einen hohen Blutzoll zahlen. Zehntausende Männer werden invalide und/oder traumatisiert nach Hause zurückkehren. Die Folgen der Gewalterfahrungen werden die ukrainische Gesellschaft über ein bis zwei Generationen prägen. Gleichzeitig kehren hunderttausende ukrainische Frauen, Kinder und Jugendliche aus dem Ausland zurück, haben Sprachen gelernt und die Erfahrung eines Lebens in einer freien Gesellschaft gemacht. Dies wird den Transformationsprozess der ukrainischen Gesellschaft vertiefen und bestärken.

Russland wird ökonomisch geschwächt aus dem Krieg hervorgehen, seine wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von China wird wachsen. Bis die russische Armee ihre vorherige Stärke wiedererlangt, wird es Jahrzehnte dauern.

Die Nato ist durch die Angst vor Russland geeint und andere postsowjetische Staaten mit freiheitlich-demokratischen Bestrebungen nähern sich dem Westen weiter an.

Nicht absehbar ist, wie wir künftig mit Russland umgehen können und werden, da eine Zivilgesellschaft und eine Opposition in Russland de facto nicht mehr existieren. Eine große Zahl an russischen Intellektuellen, Journalisten, Oppositionellen und IT-Experten ist ins Ausland geflohen. Sie werden für eine Erneuerung der russischen Gesellschaft und als künftige konstruktive Ansprechpartner für den Westen fehlen. Auch die russisch-orthodoxe Kirche fällt aufgrund ihrer Haltung im Krieg als Dialogpartner aus.
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